Geschichte der Juden aus Roth, Lahn
Geschichte der Juden aus Roth, Lahn
Historischer Überblick vom 16. bis zum 20. Jahrhundert
von Annegret Wenz-Haubfleisch
Die Zeit der adligen Schutzherrschaft vom 16.-18. Jahrhundert
Die Dörfer Roth, Wenkbach und Argenstein bildeten einst das Schenkisch Eigen, ein Gericht, in dem das Adelsgeschlecht der Schenken zu Schweinsberg umfangreiche Herrschaftsrechte besaß, darunter auch das Recht, Juden anzusiedeln. Sie erteilten ihnen hierfür Schutzbriefe, mit denen sie lukrative Einnahmen erzielten.
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Ein erster Hinweis auf eine solche Ansiedlung im Schenkisch Eigen ist in einem Türkensteuerregister aus dem Jahr 1594/95 enthalten. Danach hatten die unter den Schenken im Eigen lebenden sieben Juden zusammen 200 Gulden Vermögen zu versteuern und zahlten jeder eine Kopfsteuer von 3 ½ Hellern zur Abwehr der Türkengefahr. Es ist zu vermuten, dass von den sieben Juden und ihren Familien auch einige in Roth ansässig waren.
Sichere Kenntnis über vier jüdische Familien in Roth ist aus dem Jahr 1666 erhalten. 1710 lebten in Roth sechs jüdische Familien mit 33 Personen. 1737 sollen sogar 13 Familien mit 54 Personen hier anwesend gewesen sein. 1744 griff der hessische Landgraf als Landesherr radikal in die Ansiedlung von Juden in den Dörfern und Städten seines Landes ein. Er ließ alle mit ihren Familien namentlich erfassen und bestimmte, wem das weitere Wohnrecht in dem jeweiligen Ort zugestanden wurde und wem nicht. Aufgrund dieser Anordnung verlor der Großteil der damals etwa 38 in neun Familien wohnenden Juden das Aufenthaltsrecht in Roth, nur zwei Familien blieben zurück. Die jüdische Gemeinde blieb daraufhin mehrere Jahrzehnte sehr klein.
Die Zeit der Emanzipation und Integration im 19. und 20. Jahrhundert
In der Zeit des Königreichs Westphalen (1807-1813) unter Napoleons Bruder Jérôme erhielten die Juden erstmals die bürgerliche Gleichstellung. Damals heirateten auswärtige Juden in Rother Familien ein und schufen die Basis für die demographische Entwicklung der Gemeinde im 19. Jh. 1816 gab es bereits wieder vier Familien: Bergenstein, Höchster, Stern und Wäscher.
Bis Mitte des Jahrhunderts verdoppelte sich die Anzahl der Familien. Jüngere Söhne der Stammfamilien blieben am Ort, neu hinzu kam die Familie Nathan. Etwa 50 Juden lebten damals in Roth, ihr Anteil an der Bevölkerung betrug rund 10 Prozent. Prozentual gesehen besaß Roth eine der größten jüdischen Gemeinden um Marburg. 1933, als Hitler an die Macht kam, bestand diese noch aus den sechs Familien Bergenstein, Höchster, Nathan, Roth und Stern (3 Zweige) mit insgesamt 32 Personen.
Im 19. Jh. bildeten Roth, Fronhausen und Lohra eine Synagogengemeinde, deren Hauptsitz Roth war. Hier hatten spätestens seit der Mitte des 18. Jhs. eine Synagoge und auch ein Friedhof bestanden.
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Zusätzlich wurde eine jüdische Elementarschule eingerichtet; der Lehrer wohnte zumeist in Roth, hatte aber auch in Fronhausen für die dortigen und die Lohraer Kinder Unterricht zu halten. Das Schullokal in Roth konnte noch nicht ermittelt werden. 1881 spaltete sich die Fronhäuser Gemeinde ab, erwarb ein eigenes Gebäude, in dem sie einen Betraum einrichtete und in diesem Zuge auch eine eigene Elementarschule weiterführte.
Die Rother jüdischen Kinder besuchten hingegen von da an die allgemeine Volksschule. Typisch für Landjuden verdienten die Rother Juden ihren Lebensunterhalt mit kleineren Handelsgeschäften: vornehmlich mit Kurzwaren und Stoffen, Getreide und Futtermitteln sowie Vieh. Bis ins 20. Jh. betrieben sie diesen Handel teilweise noch im Umherziehen entweder mit Pferd und Wagen, zu Fuß, mit einem Bernhardiner und Wägelchen oder schon ganz modern: mit einem Motorrad. Einige besaßen etwas Land und Vieh, womit sie nebenher kleine Landwirtschaften betrieben.
Besonders seit dem ausgehenden 19. Jh. treffen wir Juden auch in den örtlichen Vereinen an als Mitglieder im Turn- und später im Fußballverein sowie im Gesangverein.
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Sie engagierten sich auch in der örtlichen Theatergruppe. Dies belegt die zunehmende Integration in das Dorfleben. Zeitzeugen berichten, dass man in den 20er Jahren des 20. Jhs. in gut nachbarschaftlichen Verhältnissen lebte und die Kinder beider Religionen auch Freundschaften schlossen und miteinander spielten.
Als der örtliche Gesangverein 1926 sein 35-jähriges Bestehen feierte, schien die Welt noch in Ordnung. Die Festschrift belegt, dass aus verschiedenen jüdischen Familien Männer nicht nur Mitglieder im Gesangverein waren, sondern sich auch bei der Festvorbereitung in den hierzu gebildeten Ausschüssen engagierten. Hermann Höchster, der Gemeindeälteste, war sogar Ehrenmitglied dieses Vereins.
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Die Zeit der Verfolgung und Auslöschung der Gemeinde durch das Nazi-Regime (1933-1942)
Wenn auch die Reichstagswahlergebnisse der Weimarer Republik zeigen, dass Roth nicht zu den besonders „braunen“ Orten gehörte und die NSDAP zwischen 1928 und 1932 hier noch deutlich unter dem Kreisdurchschnitt lag, so änderte sich die Situation doch sehr schnell nach der Machtübernahme Hitlers.
Nahmen 1934 nach Aussage der Familie Roth noch viele Rother an der Beisetzung der plötzlich verstorbenen jungen Mutter Selma Roth teil, so wurde ihr Witwer, der Düngemittelhändler Markus Roth, bereits ein Jahr später denunziert und vor Gericht der Gesetzübertretung beschuldigt. Roths Geschäft kam in der Folge zum Erliegen. Gleichzeitig ist aktenkundig, dass auf dem Gelände eines Geschäftsmanns und auf einem Bauernhof Schilder mit der Aufschrift „Juden sind hier unerwünscht“ standen.
Die Überlebenden berichten von Schikanen in der Schule und Ausgrenzung vom Spiel, weil die christlichen Kinder der HJ und dem BdM beitraten. Die erwachsenen Juden wurden als Freunde und Nachbarn gemieden, die Männer durften ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, so dass die Lebensgrundlagen der Familien allmählich zerstört wurden. Den jüdischen Familien wurde klar, dass sie keine Zukunft mehr in Deutschland hatten. So versuchten sie, das Land zu verlassen. Nicht alle besaßen die finanziellen Mittel und die nötigen Beziehungen. Die Familien Höchster, Roth und Stern schafften es zwischen 1936 und 1938 zum Teil auszuwandern, nur eine der beiden Stern-Familien konnte sich geschlossen in Sicherheit bringen. Elf jüdische Bewohner Roths überlebten so in Südafrika, den USA und England.
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Für die Zurückgebliebenen wurde das Leben zunehmend schwierig, weil die Gesetze und Verordnungen immer rigider und die wirtschaftliche Not immer drängender wurden. Hinzu kam, dass Roth im Sommer 1941 Ghetto-Dorf wurde. Im Zuge der Konzentration von Juden in bestimmten Häusern in den Städten oder einzelnen Orten auf dem Land wurden 20 Personen aus Neustadt bei den verbliebenen jüdischen Familien Bergenstein, Höchster, Nathan und Stern zwangseinquartiert und lebten fortan in drangvoller Enge. In zwei Deportationen wurden die Familien 1941 im Dezember nach Riga und im September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Aus Roth überlebte niemand die Ghettos und Konzentrationslager.
Jüdisches Leben in Roth wurde so für immer ausgelöscht.